Die Schwierigkeiten des Fortkommens

Dalcash Dvinsky
7 min readApr 3, 2020

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Im Juni 2014, bei den “Tagen der deutschsprachigen Literatur” in Klagenfurt, fragte mich Clemens Setz, ob ich Bücher kenne, die großartig, aber nicht ins Deutsche übersetzbar sind, aus irgendeinem Grund. Mir fiel sofort die Connemara-Trilogie von Tim Anderson ein, unübersetzbar, weil es sich um eine literarische Landkarte handelt, die woanders nicht funktioniert. Der folgende Text erschien im März 2015 in “Akzente 1/2015: Unmögliches” im Carl-Hanser-Verlag, herausgegeben von Jo Lendle und Clemens Setz. Tim Anderson verstarb am 3. April 2020 in einem Londoner Krankenhaus am Coronavirus, zwei Wochen nach seiner Frau Mairead.

Es ist spät im August 2012. Ich stehe vor dem Bahnhof von Westport, im Westen Irlands, am Rand einer wilden Halbinsel, die Connemara heißt. Eine ähnlich wilde Gegend auf dem Jupitermond Europa heißt “Connemara Chaos”. Connemara ist berühmt wegen seiner chaotischen Einsamkeit. Leeres Durcheinander. Leere Moore, leere Hügel, leere Inseln. Stimmen, die vom Wind verweht werden. Die Leere von Connemara ist Menschenwerk, generiert durch Brandrodungen, Ackerbau, Fortpflanzung, Kolonialisierung, Hungersnöte, Vertreibung. Ziemlich hässliches Menschenwerk.

Nur wenige Monate zuvor habe ich beschlossen, Irland mit dem Fahrrad zu umrunden. Die Ostküste ist abgeschlossen, der Südosten ebenfalls. Mein Fahrrad, ein Naturprodukt aus gälischem Stahl, das den vergangenen nassen Winter im Freien verbracht hat, läuft und läuft und läuft. Einmal wird es mir gestohlen. Dann aber stellt sich heraus, dass eine alte Frau mein Rad zu sich ins Wohnzimmer geholt hat, aus Mitleid und Sorge, wie einen herrenlosen Hund. Connemara ist mein erster Ausflug in den Westen.

Die Westküste Irlands muss als Fraktal verstanden werden, eine Serie von Halbinseln, an die sich kleinere Halbinseln anschließen, an die sich wieder kleinere Halbinseln anschließen. Gleichzeitig eine Serie von Geschichten, an die sich neue Geschichten anschließen, an die sich neue Geschichten anschließen. Geschichten, die niemand besser aufschreibt als der Kartograph und Autor Tim Robinson. Es gibt vielleicht eine Handvoll Autoren, die noch leben und die ich von weitem anhimmele. Ich bin sehr selektiv im Anhimmeln. Tim Robinson gehört auf diese kurze Liste.

Siebenhundert Seiten über die Aran-Inseln, dreizehnhundert Seiten über Connemara. Der Mann lässt nicht nach. Seine Methodik: Zeit, viel Zeit, Geduld, Hartnäckigkeit, Neugier, und lange Wanderungen. Seine Bücher sind das Gegenteil von Touristenführern. Tourismus ist die Kunst, sich möglichst schnell die Vorstellung anzueignen, ein Land zu kennen. Effizienz ist dabei wichtig. Es ist die Propagierung von Halbwissen, mit anderen Worten: Pseudowissenschaft. Tim Robinson dagegen ist Forschung in der Tiefe. Er schliesst die Schotten, taucht ab in die Landschaft, ihre Bewohner und ihre Geschichte, und kommt erst zurück, nachdem er ein Teil davon geworden ist. Seine Berichte sind grenzwertig unlesbar, gerade weil sie so reich sind. Wahnsinnig gründlich, voll mit Fakten, mit poetischer Wissenschaft und schamanistischer Weisheit. Man kann sich hineinwerfen in seine Bücher und wird nie wieder herausfinden.

Die Halbinsel sieht aus wie eine Hand, eine dicke linke Hand mit geschwollenen Fingern, die von Irland aus in den Atlantik hineinfasst. Die Hand ist braun, manchmal auch grün. Westport im Norden liegt an der Wurzel des Daumens, Galway im Süden an der Wurzel des kleinen Fingers. Clifden, so etwas wie die Metropole von Connemara, befindet sich zwischen Mittel- und Zeigefinger. Der kürzeste Weg durch Connemara verläuft quer über den Handrücken. Meine Aufgabe hingegen besteht darin, jeden Finger einzeln zu erkunden.

Es liegt in der Natur des Fraktals, dass unendlich viel Zeit vonnöten wäre, um die Landschaft vollends zu erfahren. Die Unendlichkeit ist unerreichbar, aber Tim Robinson lässt das nicht als Ausrede gelten. Während ich gelangweilt durchs Moor fahre, zermürbt vom Nieselregen, im Kopf nur die Tankstelle in Carna, wo es hoffentlich warmen Tee gibt, bleibt Robinson weiterhin an jedem seltsam geformten Stein stehen. Ich reise, er schlendert. Ich werde überwältigt von dieser Ansammlung von irischem Nichts, von den Stellen und Strömen, soviele Stellen, kahl und unwirtlich.

Ich gebe mich geschlagen und eile oberflächlich durch die Gegend. Robinsons’ prosaische Kartographie dagegen gedeiht in dieser Kargheit. Er verfügt über unendliche Empathie für die grobe Gegend. Je weniger das Land scheinbar zu bieten hat, umso mehr gräbt er aus: “One’s first impressions are of monotony and uniformity, but experience soon undoes that, through the constant recalling of attention to what is underfoot or immediately ahead by the difficulties of progress.”

Die Schwierigkeiten des Fortkommens. Ich umrunde den fetten Daumen, vorbei an den heiligen Bergen Croagh Patrick und Mweelra. Ich umrunde den Zeigefinger, die Halbinsel Renvyle mit ihren fantastischen kleinen Stränden zwischen fantastischen kleinen Felsformationen. Hier will ich wohnen, sage ich ungefähr alle drei Kilometer. Ich umrunde den Mittelfinger, die Halbinsel von Cleggan. Am Hafen esse ich Vanilleeis. Die Luft stinkt nach Fisch. Ich umrunde Slyne Head, einen kleinen Extrafinger, der Clifden vorgelagert ist, und den ich nicht auf der Rechnung hatte.

Ich umrunde das Moor von Roundstone, das den unteren Teil des Ringfingers bildet. Eine komplett leere Fläche am Fuße des Berges Errisbeg, zwanzig oder dreißig Quadratmeilen, so groß wie Berlin. Voll mit kleinen Seen und kleinen Hügeln, oder wie man in Irland sagt, mit Loughs und Knockans. In diesem Moor hat Robinson Monate verbracht. Ich stapfe ein paar Minuten durch den Schlamm, springe von Grasbüschel zu Grasbüschel und hole mir nasse Füße. Durch Zufall finde ich die Überreste von Marconis Funkstation, ein Zwischenstop der ersten transatlantischen Funkverbindung. Für einen Touristen ein großer Fund, für Tim Robinson kaum erwähnenswert, zu offensichtlich. Direkt daneben die Stelle, an der Alcock und Brown nach der ersten Nonstop-Atlantiküberquerung ihr Flugzeug landeten. Sie sahen die riesigen Funkmasten und rings herum eine grüne Wiese. Eine grüne Wiese, in der der zweimotorige Doppeldecker zur Hälfte versank. Die Schwierigkeiten des Fortkommens.

Es ist sehr anstrengend. Ich lasse die Kuppe des Ringfingers aus. Ich lasse alle Halbinseln aus, auf die keine richtige Straße führt. Ich kompromittiere meine Philosophie. Ich lasse alle Inseln aus. Ich lasse ganze Ortschaften aus. Ortschaften mit herrlich rätselhaften Namen wie Aughrus, Bunowen, Inishnee, Ailenacally, Gooreenatinny, Rosroe. Für mich sind diese Namen nur Raunen auf der Landkarte. Für Robinson sind es die Spuren der Zivilisation, die es zu verfolgen gilt. Ein Ortsname, überliefert nur in der Folklore, ist eine Nachricht aus der Vergangenheit, eine Tonscherbe. Der Westen Irlands ist keine sprachlose Wüste. Die Landschaft redet, und Tim Robinson ist ihr Übersetzer.

Es ist nicht klar, ob die Landschaft auch für Tim Robinson anstrengend ist. Er redet nicht über Anstrengungen, und wenn dann nur über ihre Vorteile. “Sometimes I come back from such a walk with my head so empty it seems not a single thought or observation has passed through it all day and I feel I have truly seen things as they are when I’m not there to see them.” So kann man sich das natürlich auch schönreden. Robinson hat auch keine großen geographischen Ziele, die man anschließend prägnant auf einen Buchtitel drucken könnte. Er steigt auf dieselben Hügel Dutzende Male, nur so. Wie John Muir, nur weniger pathetisch. Er schreibt nicht wie ein Reisender, sondern wie ein Kartograph: “The primary loyalty of maps is to what is there.”

Und was alles da draußen ist. Eine Schicht nach der anderen bringt Robinson ans Tageslicht. Manche kaum erkennbar und subtil, andere konkret und fassbar, Historie, Geologie, Botanik, Gerüchte und Fakten, konserviert in Robinsons mäandernder, schlichter Prosastimme. Man lernt alles über vergangene Orte und gegenwärtige Orte, die ein Tourist wie ich nie betreten wird. In diesem Sinne sind Andersons Bücher wie das Moor. In den verrotteten Pflanzen des Moors ist seine Vergangenheit erhalten. Je tiefer man in den Torf gräbt, umso weiter geht man zurück. “A bog is its own diary; its mode of being is preservations of its past.”

Tod und Leben, Schöpfung und Zerstörung, Verwesung und Fortpflanzung, Vergangenheit und Zukunft, Natur und Zivilisation, Ökologie und Ökonomie, Erhaltung und Veränderung, die großen Konflikte, sie alle finden sich in Connemara. Die Idee, ein kleines Ding in der Hand zu halten, und in diesem kleinen Ding die gesamte Welt zu sehen, ist nicht neu. Aber bei Robinson ist es nicht nur eine Idee. Strenggenommen haben seine Bücher keine Idee. Robinson betrachtet die Landschaft mit der Lupe, und am Ende der Reise ins Kleine kommt das Große zum Vorschein. Aber man muss es sich hart verdienen. Robinson will nicht unterhalten. Er ist der Landschaft und der Nachwelt verpflichtet, nicht dem Leser.

Und natürlich ist Robinson kein unabhängiger Beobachter. Er öffnet sich für die Landschaft, gießt sich in die Landschaft, arbeitet sich an ihr ab. Er verbindet und verbündet sich mit den Bewohnern, gegenwärtigen und vergangenen. Er hält nichts zurück. Er erschafft und verändert den Ort durch seine Anwesenheit und seine Beschreibungen. Er schreibt Geschichte, im buchstäblichen Sinne.

Von der morastigen Halbinsel Rosroe, ein paar Meilen südlich von Roundstone, erzählt Tim Robinson die Geschichte von einem Fuchs, der in den Algen nach Nahrung sucht. Der Fuchs sieht eine Napfschnecke, die gerade dabei ist, sich am Felsen festzuklammern. Der Fuchs steckt seine Zunge unter die Schale, in der Hoffnung, die Schnecke vom Felsen lösen zu können. Die Napfschnecke klemmt die Zunge ein und hält den Fuchs so lange fest, bis die Flut kommt und ihn ertränkt. Erneut die Schwierigkeiten des Fortkommens. Tim Robinsons Bücher sind ortsgebunden, wie der Fuchs, aber die Gezeiten können ihnen nichts anhaben.

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